nationale Stile in der Musik und ihre Vermischung

nationale Stile in der Musik und ihre Vermischung
nationale Stile in der Musik und ihre Vermischung
 
Spätestens mit der Etablierung der neuen Gattung Oper dominierte die italienische Musik. Die Sängervirtuosen wurden zum italienischen »Exportschlager« und die italienische Musik von den deutschen, englischen und holländischen Musikverlegern nachgedruckt, sodass sie auch im Norden Europas schnell Verbreitung fand. Höfe wie Dresden, Wien, München, Innsbruck und Hannover investierten enorme Summen in italienische Musik und Musiker. Notfalls wurden deutsche Musiker nach Italien zur Ausbildung geschickt, damit sie dort die Neuerungen kennen lernen konnten. Deutsche Publikationen wurden selbst dann mit italienischen Titeln als Zeichen der Modernität versehen, wenn die darin vertonten Texte deutsch waren.
 
Am deutlichsten ist die Beeinflussung auf dem Gebiet der Oper; nachdem die habsburgischen Höfe erst einmal ihre Operntheater errichtet hatten, konnte niemand mehr den Siegeszug der neuen Gattung in ganz Nordeuropa aufhalten. Ihr Weg ging über die Höfe in die Städte. Selbst Frankreich, das stets versuchte, seinen eigenen musikalischen Weg zu gehen, wurde von der Lawine überrollt. Zwar scheiterten die Versuche, Luigi Rossi und später dann Francesco Cavalli am französischen Hof zu etablieren; kurz darauf aber gelang es dem in Florenz gebürtigen Jean-Baptiste Lully, diese letzte Bastion zu erobern. Lully allerdings sah seine Chance vor allem in einer Synthese der unterschiedlichen Stile. So übertrug er die italienische Deklamation auf die französische Sprache, behielt aber die französischen Tänze bei. Derartig modifiziert, nahm in der Folgezeit die französische Oper eine andere Entwicklung als die italienische.
 
Auch die Opern des Engländers Henry Purcell zeigen den italienischen Einfluss. Ähnliches gilt für die deutsche Oper, deren Nähe zur italienischen schon dadurch deutlich wird, dass die Arien häufig mit italienischem Text gesungen wurden. Zudem waren nicht wenige Libretti mehr oder weniger originalgetreue Übersetzungen aus dem Italienischen, was zwangsläufig auch zu einer ähnlichen Dramaturgie führte.
 
Aber auch französische Einflüsse waren vor allem an den protestantischen Höfen Deutschlands stets präsent. Selbst die in Deutschland wirkenden italienischen Komponisten wie Agostino Steffani ließen in ihre Opern französische Elemente einfließen. Dies lag unter anderem daran, dass der Hof des Sonnenkönigs rasch zum Vorbild geworden war und zudem zahlreiche dynastische Verästelungen nach Frankreich wiesen. Außerdem war die Sprache an den deutschen Höfen französisch.
 
Anders als in Italien war in Frankreich die Aufführung von Instrumentalmusik mit großer Besetzung die Norm; dies bedingte bei den Steichern zugleich eine größere Disziplin hinsichtlich des Bogenstrichs. Eine der Generalregeln besagte deshalb, dass der erste Taktteil durch den Abstrich akzentuiert, die ungeraden Taktzeiten im geraden Takt jedoch mit einem Aufstrich ausgeführt werden sollten, damit die Musik einheitlich klinge, »obgleich ihrer tausend zusammen spihleten« (Muffat). Zwar gibt es zahlreiche Zeugnisse dafür — unter anderem von Muffat selbst —, dass auch in Italien bei besonderen Anlässen die einzelnen Stimmen ausgesprochen üppig besetzt wurden, die Regel aber scheint eher die Doppelbesetzung jeder einzelnen Stimme gewesen zu sein. Bei Bedarf oder Gelegenheit jedoch konnte der Apparat erweitert werden. Umgekehrt konnten Concerti grossi auch zu Triosonaten reduziert werden. Insofern war die Besetzungsstärke in Italien eher zufällig, was mitunter auch die kompositorische Struktur tangieren konnte. Die französische Ensemblemusik hingegen rechnete von vornherein mit einem größeren Orchester und schloss etwa eine kammermusikalische Wiedergabe aus, da dadurch die ausgeloteten Klangproportionen der Stimmen gestört worden wären. Einer Orchesterkultur in Frankreich stand also eine Ensemblekultur in Italien gegenüber.
 
Auch die deutsche Kirchenmusik profitierte von den unterschiedlichen Nationalstilen. Die katholische Kirchenmusik orientierte sich vor allem an römischen Komponisten; die protestantische Kirchenmusik hingegen nahm bereits seit Schütz Elemente venezianischer Musik auf. Die Kombination von protestantischem Gemeindegesang, Chören in deutscher Tradition und Elementen der italienischen Oper prägten beispielsweise die Kantaten Johann Sebastian Bachs und Georg Philipp Telemanns, wobei beide auch die französische Schreibart integrierten. Diese Mischung beschrieb der Musikschriftsteller Johann Adolph Scheibe in seinem1745 erschienenen »Critischen Musikus«: »Die deutsche Musik hat das meiste von den Ausländern entlehnet, und sie unterscheidet sich nur durch fleißige Arbeit, regelmäßige Ausführung der Sätze und durch die Tiefsinnigkeit, die sie in der Harmonie anwenden.« Scheibe hatte wohl vor allem die Werke Telemanns im Sinn, aus dessen Autobiographie hervorgeht, wie er sich die unterschiedlichen Nationalstile im Einzelnen angeeignet hat.
 
Zunächst waren für Telemann die Italiener das Vorbild: »Die Sätze von Steffani und Rosenmüller, von Corelli und Caldara erwählte ich mir hier [in Hildesheim] zu Mustern, um meine künfftige Kirchen- und Instrumental-Music darnach einzurichten. ..«. Fugen und kontrapunktische Sätze jedoch erlernte er bei einem Deutschen, nämlich bei Johann Kuhnau in Leipzig. In Sorau lernte Telemann dann die französische Musik kennen: »Ich wurde des Lulli, Campra und andrer guten Meister Arbeit habhafft, und legte mich fast gantz auf derselben Schreibart, sodass ich der Ouvertüren in zwey Jahren bey 200. zusammen brachte.« Doch damit nicht genug. Als sich der dortige Hof für einige Zeit nach Oberschlesien begab, lernte Telemann nach eigener Auskunft »so wohl daselbst als in Krakau, die polnische und hanakische Musik, in ihrer wahren barbarischen Schönheit kennen... Man sollte kaum glauben, was dergleichen Bockpfeiffer oder Geiger für wunderbare Einfälle haben... Gnug, in dieser Musik steckt überaus viel gutes; wenn behörig damit umgegangen wird. Ich habe, nach der Zeit, verschiedene, grosse Concerte und Trii in dieser Art geschrieben, die ich in einen italiänischen Rock, mit abgewechselten Adagi und Allegri, eingekleidet.«
 
War eine derartige Haltung, die von den anderen Nationen das jeweils Passende übernahm, für einen deutschen Musiker durchaus nicht untypisch, so wurden andererseits in Italien und Frankreich Einflüsse von außen ausgesprochen argwöhnisch betrachtet. England hingegen hatte sich nicht nur der italienischen Oper geöffnet, sondern holte sich mit Händel einen derjenigen Deutschen ins Land, die alle Stilarten beherrschten. Trotz der Vermischung der nationalen Stile sollte der Streit um die Vorherrschaft der italienischen oder der französischen Musik und insbesondere der Oper noch einige Zeit anhalten.
 
Dr. Reinmar Emans
 
 
Dammann, Rolf: Der Musikbegriff im deutschen Barock. Laaber 31995.
 
Europäische Musik in Schlaglichtern, herausgegeben von Peter SchnausMannheim u. a. 1990.
 
Geschichte der Musik, herausgegeben von Alec Robertson und Denis Stevens. Band 2: Renaissance und Barock. Aus dem Englischen. Sonderausgabe Herrsching 1990.
 
Die Musik in Geschichte und Gegenwart, begründet von Friedrich Blume. Herausgegeben von Ludwig Finscher. Auf 21 Bände berechnet. Kassel u. a. 21994 ff.
 
Neues Handbuch der Musikwissenschaft, begründet von Carl Dahlhaus. Fortgeführt von Hermann Danuser. Band 3 und 4. Sonderausgabe Laaber 1996.

Universal-Lexikon. 2012.

Игры ⚽ Нужно сделать НИР?

Schlagen Sie auch in anderen Wörterbüchern nach:

  • Musik — Töne; Klänge; Tonkunst * * * Mu|sik [mu zi:k], die; , en: 1. <ohne Plural> Kunst, Töne in bestimmter Gesetzmäßigkeit hinsichtlich Rhythmus, Melodie, Harmonie zu einer Gruppe von Klängen und zu einer Komposition zu ordnen: klassische,… …   Universal-Lexikon

  • Kultur der Philippinen — Parade in Malolos City, Bulacan, bei der Singkaban Fiesta 2008 In der Kultur der Philippinen reflektiert sich die vielschichtige Geschichte der Philippinen, die sich über die vergangenen Jahrhunderte durch die Vermischung verschiedener indigener… …   Deutsch Wikipedia

  • Kanada — Canada (engl./franz.) Kanada …   Deutsch Wikipedia

  • Amerikanische Kunst — Dieser Artikel oder Abschnitt bedarf einer Überarbeitung. Näheres ist auf der Diskussionsseite angegeben. Hilf mit, ihn zu verbessern, und entferne anschließend diese Markierung. Die Kunst in den Vereinigten Staaten löste sich im 20. Jahrhundert… …   Deutsch Wikipedia

  • Kunst in den USA — Dieser Artikel oder Abschnitt bedarf einer Überarbeitung. Näheres ist auf der Diskussionsseite angegeben. Hilf mit, ihn zu verbessern, und entferne anschließend diese Markierung. Die Kunst in den Vereinigten Staaten löste sich im 20. Jahrhundert… …   Deutsch Wikipedia

  • Kunst in den Vereinigten Staaten — Die Kunst in den Vereinigten Staaten löste sich im 20. Jahrhundert von den Vorbildern der Alten Welt. Die unterschiedlichen kulturellen Disziplinen wurden in neue Richtungen erweitert mit eindrucksvollen und innovativen Ergebnissen. Musik, Film,… …   Deutsch Wikipedia

  • Roma — Vermutete Migration der Roma nach Europa Roma [ˈrɔmɑ] ist der Oberbegriff für eine Reihe ethnisch miteinander verwandter, ursprünglich aus dem indischen Subkontinent stammender Bevölkerungsgruppen, die ab dem 14. Jahrhundert in mehreren… …   Deutsch Wikipedia

  • Gitanos — Die Wanderung der Roma und Sinti nach Europa Roma (Singular m. Rom, f. Romni; Romanes rom = „Mann“ oder „Mensch“) ist der Oberbegriff für eine Reihe ethnisch miteinander verwandter, ursprünglich aus Indien stammender Bevölkerungsgruppen, die ab… …   Deutsch Wikipedia

  • Roma (Ethnie) — Die Wanderung der Roma und Sinti nach Europa Roma (Singular m. Rom, f. Romni; Romanes rom = „Mann“ oder „Mensch“) ist der Oberbegriff für eine Reihe ethnisch miteinander verwandter, ursprünglich aus Indien stammender Bevölkerungsgruppen, die ab… …   Deutsch Wikipedia

  • Roma (Schiff) — Die Wanderung der Roma und Sinti nach Europa Roma (Singular m. Rom, f. Romni; Romanes rom = „Mann“ oder „Mensch“) ist der Oberbegriff für eine Reihe ethnisch miteinander verwandter, ursprünglich aus Indien stammender Bevölkerungsgruppen, die ab… …   Deutsch Wikipedia

Share the article and excerpts

Direct link
Do a right-click on the link above
and select “Copy Link”